warum ich keine Angst mehr habe
Ich habe Angst. Angst davor, zu reisen. Angst davor, mein gewohntes und sicheres Umfeld hinter mir zu lassen und neue Wege zu gehen. Neue Menschen zu treffen und mich in Gruppen einzufinden. Mich in fremden Gesichtern zu spiegeln und mich nicht wiederzuerkennen. Ich habe Angst davor, etwas Wichtiges zu vergessen, wenn ich mich dann getraut habe und meine Koffer packe. Genügend frische Unterhosen zum Beispiel, oder meinen Reisepass. Vor einem Jahr habe ich mir vorgenommen, mich dieser Angst zu stellen. Ich habe mir vorgenommen, mich im Jahr 2022 all den Dingen zu stellen, die mir am meisten Angst machen. Die Reise zu machen, die ich schon immer antreten wollte. Mir die Dinge zu zugestehen, die mich begeistern und das zu tun, wobei mein Herz höherschlägt. Ein Buch zu schreiben, einen Blog zu starten, Instagram zu löschen und mich auf ein Praktikum zu bewerben, das mein ganzes Leben verändern könnte. All die Dinge zu tun, die ich eigentlich schon immer wollte. Denn was ist das Schlimmste, was passieren kann?
Im März 2022 habe ich mich auf die schönste Reise meines Lebens begeben. Von Stockholm ging es mit dem Nachtzug nach Norden, durchgeschüttelt von der Fahrt und unausgeschlafen kam ich mit einer Hand voll komplett fremder Menschen in Kiruna an. In den kommenden zwei Wochen habe ich die Ruhe gefunden, die mein Herz jahrelang gesucht hat. Ohne fließend Wasser und ohne Strom in einer Hütte in den langgestreckten, von Gletschern geformten Bergen in Nordschweden. Mit Schneeschuhen an den Füßen und laufenden Nasen sind wir durch die unberührte Natur gewandert. Wir haben Holz für die Sauna gehackt und früh morgens Wasser aus dem Fluss geschöpft und in unsere Hütte getragen. Ich habe meinen Platz in der Gruppe gefunden und habe mich meiner Angst, nicht dazuzugehören, gestellt. Wir sind ins eiskalte Meer gerannt, sind nackt durch den Schnee gerollt und haben bis spät in die Nacht die Nordlichter beobachtet. Ich war zum zweiten Mal in meinem ganzen Leben angetrunken und habe mich mit drei neuen Freunden nachts durch Henningsvaer treiben lassen, nur mit einer Kamera und einer Packung Cider in den Händen. Der Himmel war grün und hat getanzt und ich habe mich ein paar Tage später auch meiner Seekrankheit gestellt. Ich bin aufs offene Meer hinaus gefahren und habe Wale gesehen. Ich habe viele glückliche Tränen geweint und in den kalten und stummen Bergen meine Schmerzen losgelassen. Ich habe geschluchzt und gelacht und war mir selbst hautnah. Ich bin in den norwegischen Fjorden Kajak gefahren, habe mich von einem Schnee Scooter über einen zugefrorenen Fluss ziehen lassen und bin auf einen Berg gestiegen, von dem ich nie geglaubt hätte, dass meine Füße ihn bezwingen könnten.
Bilder von mir, Stefan und Julia
Mein Herz ist hinter mir durch den Schnee gestolpert und hat vergeblich versucht, Schritt zu halten mit all den neuen Eindrücken und Erlebnissen. Immer wieder musste ich innehalten, mich von der Gruppe lösen und allein einfach nur da sitzen, damit mein Herz zu mir zurückfinden konnte. Der schönste Moment der ganzen Reise war still. Auf einem Stein am Meer mit einem Buch, während der Rest der Gruppe umherwanderte, saß ich einfach nur da.
Ich saß einfach nur da, Hand in Hand mit mir selbst und mein Kopf war leer. Alles war still. In mir drin war es ruhig und zum ersten Mal seit Jahren, hat mir die Stille, die Ruhe und der Stillstand keine Angst mehr gemacht. Die Wahrhaftigkeit und die Schönheit der Natur nördlich des Polarkreises hat mich in die Knie gezwungen. Ich musste meine Angst loslassen davor, nicht lang genug hinsehen zu können. Die Schönheit der Welt niemals mit meinen Augen einfangen zu können. Die überwältigende Wucht der Berge, der in Stein gegossenen Zeit und die nie stillstehende und doch so unendliche Kraft des Meeres hat mich zu mir selbst zurückfinden lassen. Sie hat mir die Worte genommen und mir gezeigt, wie sehr ich die Stille und die Langsamkeit brauche.
“Weniger ist mehr”, sprach die Natur zu mir und schwieg dabei.
Ich hatte Angst. Angst davor, zu reisen. Jetzt habe ich Angst davor, es nicht zu tun. Ich werde niemals begreifen können, wozu unsere Erde im Stande ist, ich werde niemals alles sehen können und mich erst recht nicht an alles erinnern. Ich bin vergänglich wie der Schnee und der Wind und sogar wie das Meer. Aber das ist in Ordnung. Heute suche ich die Stille, ich suche den Stillstand und die Entschleunigung. Ich suche mich selbst, denn dort bin ich besonders gern.
Video von Jonas Kuhlbrodt