Zeitenwende
20. Schreibwettbewerb für junge Menschen 2023
Ich habe viele Eisen im Feuer, sage ich und schwitze dabei. Der Hauptmann nickt und mustert mich. Mich, die zivile Praktikantin mit der Kamera in der Hand. Die da wären, will er wissen. Der Hauptmann und ich machen ein paar Schritte zur Seite. Wie bei einem Tanz. Es ist ein Tanz, den ich in den letzten Wochen immer und immer wieder geübt habe, auf dem Truppenübungsplatz, im Lagezentrum, in der Teeküche. Ein Tanz, bei dem niemand führt. Mittlerweile beherrsche ich ihn im Schlaf. Nicht im Weg stehen, immer aufmerksam sein, die Umgebung im Blick. Schnell sein, mitdenken, jedes Gespräch sofort ruhen lassen, wenn notwendig. So wie jetzt. Die Unteroffiziers- und Feldwebelanwärter sprinten an uns vorbei, beziehen Stellung, robben durch den Staub.
GERADEAUS – 600 - BEIDE GESCHÜTZENGRUPPEN – FEUER! BIS ZUM ENDE!
Das Maschinengewehr macht brrrrrt und ich renne los, um eine Zeitlupenaufnahme der umherfliegenden Patronenhülsen zu machen. Das Gewehr G36 knallt. Schießen sie verdammt nochmal präziser! Patronenhülsen fliegen wenige Zentimeter am Kameraobjektiv vorbei. Glühend heiß landen sie auf dem sommertrockenen Boden. Treffer.
Mir wäre es lieber, wenn du keine Kriegspropaganda machen würdest. Mein Vater empfiehlt mir eine Dokumentation über Leni Riefenstahl. Er hat den Dienst an der Waffe verweigert und ich habe als Kind unzählige Dokumentationen über das dritte Reich gesehen. Damit du niemals vergisst, wie schrecklich der Krieg ist. Das war deiner Großmutter immer sehr wichtig. Ich lese das Tagebuch des gefallenen Bruders meines Großvaters und weiß, dass ich niemals vergessen werde. Manchmal, sagt mein Vater, denkt er, er habe in meiner Erziehung etwas falsch gemacht. Er versteht es nicht, dass ich zur Bundeswehr gegangen bin. Jedoch habe ich von ihm alles gelernt, was ich brauche, um mich in dem von Männern dominierten und hierarchischen System zu behaupten. Denn auch er hat ein Problem mit Autoritäten, so wie ich.
Ich schiebe meinen Fuß in die Tür, bevor sie zufällt. Gleichzeitig balanciere ich einen Teller mit Schwarzbrot, Käse und Gemüse sowie eine Tasse Tee in meinen Händen. Einer der Fernspäher hat mir für die Abendverpflegung seine Jacke gegeben. Meine Videoaufnahmen von diesem Tag sind ganz verwackelt, weil meine Hände nach mehreren Stunden an der frischen Luft angefangen haben zu zittern - Stetten am kaltem Arsch. Schöne Jacke, Frau Gramsch. Der Oberstleutnant hat einen kahl geschorenen Kopf und harte Gesichtszüge und gehört zu den Fallis. Danke, gleichfalls. Ich bin mir nicht sicher, ob er schmunzeln muss. Ich hätte Ihnen ja keine gegeben, damit sie frieren und Ihre Lektion lernen. Ich weiß, aber glauben Sie mir, nächstes Mal werde ich auch so wärmere Kleidung einpacken. Er mag keine Pressedullis aber nach einem ordentlichen Händedruck durfte ich dann doch den Auslöser drücken und ein Interview aufnehmen. Vielleicht gefiel ihm auch nur die blonde Zivilistin. Er ist mir dennoch sympathisch, denn ein Teil von mir ist wie er. Streng und ungerecht gegenüber den Schwachen. Am Ende bin ich mir selbst der strengste Vorgesetzte.
Du hast das Gespräch ganz schön dominiert. Die beiden Herren in Uniform kamen kaum zu Wort. Längst habe ich mich an den Umgangston der Bundeswehr gewöhnt. An die präzise und schnelle Übermittlung von Sachinformationen. Ich bin nicht mehr Caroline, die gerne Gedichte schreibt, viel liest und deren Lieblingsfarbe Grün ist. Wir alle sind hier in unserer Funktion als Angehörige der Bundeswehr.
Die Praktikantin des Dezernats InfoA des LKdo BW. Wir. Dienen. Deutschland. Der Soldatenbegriff kennt kein Geschlecht, so schreibt es die Innere Führung vor. Der Umgang untereinander irritiert die Zivilbevölkerung, er irritiert meine Eltern, als sie mich am Tag der Bundeswehr bei der Arbeit besuchen. Warum sagt der denn Frau Oberbootsmann? Mir gibt dieser Umgangston die Streetcredibility, die ich brauche. Gramschgramsch gehört jetzt zur Truppe, sagt der Gefreite auf dem Truppenübungsplatz, nachdem ich den Orientierungsmarsch im Gelände mit durchgezogen habe und ich platze vor Freude. Für ein paar Wochen fühlt es sich so an, als ob er Recht hat.
Ich sehe schon längst keine Uniformen mehr, keine Dienstgrade. Ich sehe die Menschen, die für mich im Kriegsfall die Waffe in die Hand nehmen würden. Du findest es also in Ordnung, Menschen zu töten? Ich bin zurück im zivilen Alltag, zurück in der Stadt, in der ich schon immer gelebt habe und deren Akademikerelite mich wütend macht. Ich habe Angst, dass jemand denken könnte, ich sei wie sie. Nein, aber zumindest halte ich mich nicht für moralisch überlegen und bevor du fragst: ja, auch ich finde Krieg scheiße. Ich bin entweder zu linksgrün oder finde Waffen geil. Doch ich habe in die Gesichter von ukrainischen Soldaten geblickt, habe eine junge Ukrainerin dabei beobachtet, wie sie sich in der Truppenküche Salat aufgetan hat und dabei kaum älter als ich gewesen sein kann. Vermutlich jünger. Sie nicht zu genau hin, hat der Hauptfeldwebel gesagt. Sonst merkst du dir die Gesichter und sie verfolgen dich. Die meisten von denen sind schon bald tot. Aber ich habe schon immer zu genau hingesehen. Ich kann nicht wegsehen und erst recht nicht wegfühlen.
Das Maschinengewehr macht brrrrt und der Leopard 2 Schützenpanzer, auf den ich klettern durfte, ist hoffentlich auf dem Weg nach Osten. Olaf hat uns die Zeitenwende versprochen und der Spieß sagt, Ursula habe so viel kaputt gemacht. Außerdem mag er keinen Milchreis. Der Hauptgefreite sagt, es wäre zumindest mal schön, nicht mit Flaschen beworfen zu werden, wenn man in Uniform Bahn fährt oder sich einen Kaffee holt. Ein Danke für deinen Dienst wäre richtig nice. Die schrägen Blicke beim Bäcker, als er mich für einen Auftrag in einer anderen Kaserne abholt, kriechen ihm unter die Haut und er wirkt steif und unsicher. Die Bundeswehr ist eben kein Arbeitgeber wie jeder andere. Der Staatsbürger in Uniform legt seine Feldjacke ab und zurück bleibt ein Mensch, der wieder sichtbar wird.
Der Fallschirmjägeroffizier seufzt. Ich habe das Gefühl, dass wir alle das Zuhören verlernt haben, sage ich und er nickt zustimmend. Wie alt er ist, ist schwer einzuschätzen, aber er war sowohl in Afghanistan als auch in Mali und erzählt stolz von seiner Tochter. Jetzt ist er Teil der Reserve. In einem Spiegelartikel habe ich gelesen, dass die Ablehnung Andersdenkender bei Linken und Gebildeten am stärksten ist. [1] Bei der Wahrnehmung und emotionalen Reaktion auf Andersdenkende spielt der Studie zufolge der eigene sozioökonomische und politische Hintergrund eine Rolle. »Wer sich politisch als links beschreibt, ist im Schnitt deutlich stärker polarisiert als Menschen, die sich eher rechts verorten«, heißt es. Hm.
Der Offizier steckt sich eine Zigarette an und hält mir eine hin. Ich schüttle den Kopf. Besser so, sagt er und zieht den Rauch in die Lungenflügel. Er räuspert sich. Aber hier geht das nicht. Wo sonst treffen ein Metzgersohn und jemand mit Doktortitel aufeinander, wenn nicht bei uns?
Mir fällt keine Antwort ein. Du musst hier niemanden lieben, aber du musst füreinander einstehen und miteinander auskommen. Du musst dich auf den anderen verlassen können. Kameradschaft eben. Das findet man nur hier. Schweigend warten wir im Nieselregen auf die Rekruten.
Dem tanzenden Hauptmann auf dem Truppenübungsplatz erzähle ich etwas von der Faszination für die Schnittstelle aus zivilem und militärischem Leben, von der Suche nach einer verantwortungsvollen Kommunikation der Streitkräfte gegenüber der Zivilgesellschaft und der Hoffnung, dass wir in Deutschland irgendwie ein gesundes Verhältnis zur Bundeswehr entwickeln werden. Während ich spreche, klemmt mein Fuß noch immer in der Tür, die ich durch mein Praktikum aufgestoßen habe. Mein Instagramprofil ist widersprüchlich und Freunde und Bekannte stören sich an den Bildern von Uniformen und Panzern. Sie haben Angst, mit dem Militär in Verbindung gebracht zu werden, weil sie mit mir befreundet sind oder mir zumindest folgen.
Aber ich schreibe immer noch Gedichte und meine Lieblingsfarbe ist Grün. Sie wissen nicht, wo sie mich einordnen sollen, und ich kann ihnen nicht dabei helfen. Trotz meines Studiums weiß ich nicht, was ich in meine Bio schreiben und wie ich das Kartenblatt einnorden soll, das vor mir ausgebreitet liegt. Marschrichtung ungewiss.
Als ich durch die Tür hindurchgehe, muss ich feststellen, dass es sich um eine Drehtür handelt. Mühsam schiebt sie sich über den staubigen Waldboden, auf dem sich die Patronenhülsen sammeln. Staub und Dreck füllen die Luft und mischen sich mit dem Geruch nach Buchseiten. Ich kann zu allen Himmelsrichtungen herausschauen und immer wieder gesellt sich jemand anderes zu mir, um mich für eine halbe Umdrehung zu begleiten.
Ich will studieren und promovieren, will Uniform tragen, die Offizierslaufbahn einschlagen und ein Praktikum im Verteidigungsministerium machen. Eine Frau in Führungsposition sein, die alten weißen Männern Angst macht. Aber ich muss schreiben, schreiben, schreiben, um den Ausgang zu finden.
Der Boden unter meinen Füßen verändert sich, ich gehe vorbei an der Wache am Kaserneneingang und über alte, knarzende Stubenböden, bis ich schließlich auf grünem, fruchtbarem Boden gehe. Kaffee ist nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern ein Grund, sich mit Freundinnen zu treffen und über Gefühle zu sprechen. Kinder fahren ins Spatzennest und führen Kunststücke an Trapezen auf, bevor sie abends in ihre Kinderzimmer in den alten französischen Kasernengebäuden zurückkehren und ihre Eltern ihnen aus pädagogisch wertvollen Büchern vorlesen. Ich gehe über Patronenhülsen und Worthülsen und weiß nicht mehr, wo der Ausgang ist. Runde für Runde für Runde für Runde, mit dem Fuß in der Tür und den Eisen im Feuer und der Angst, mich zu verbrennen.
Tag der Bundeswehr Bruchsal, 2023
[1] Spiegel 2023: Migration und Klimakrise polarisieren Linke und Rechte am stärksten https://www.spiegel.de/politik/deutschland/migration-und-klimakrise-polarisieren-linke-und-rechte-am-staerksten-a-ecbb77d3-26d6-4d7d-8565-f6b616acffca, letzter Zugriff am 21. Juli 2023